Twitter-Bot-Beobachtung zu #AnneWill
Social Bots sind aktuell ein großes Thema. Die Medien berichten darüber, wie die bösen Roboter unsere Demokratie hacken werden. Sogar Verbote werden gefordert -- ich nehme an, der Quatsch soll Schlagzeilen bringen und ist nicht ernst gemeint. "Forscher" und "Experten" versuchen, die vom Untergang bedrohten Parteien zu beraten. Besonders aufgefallen ist mir kürzlich das Projekt Botswatch, das Bot-Reaktionen auf Talkshows beleuchtet -- mit der simplen Heuristik, dass User mit 50 oder mehr Tweets pro Tag Bots seien.
Ich halte das alles für sinnlose Panikmache. War aber neugierig, wie denn die Zahlen zustande kommen, was sie bedeuten, und welche Techniken heute zum Einsatz kommen, um Social Bots zu identifizieren.
Dazu habe ich am vergangenen Sonntag Tweets zur Sendung Anne Will im Ersten gespeichert, und diese etwas genauer angeschaut.
Datensammlung
- Sendung: So, 05.03.17 | 21:45 - 22:45 Uhr Das Erste
- Tweet-Aufzeichnung: 21:00 bis 23:30 Uhr, Tweets mit dem Hashtag #annewill.
- Insgesamt wurden 5705 Tweets erfasst, davon sind 2842 "originale" Tweets und 2863 Retweets.
Die Rohdaten habe ich bei GitHub veröffentlicht, einige Explorations-Grafiken sind in meinem Tableau Account zugänglich.
Insgesamt haben 1794 User (Re)Tweets gesendet. Die meisten wenige, manche viele. Die fleißigsten Kommentatoren waren @rot_pe (64 Tweets), @HorstNRW (53 Tweets), @darksideoftheeg (37 Tweets).
888 User haben nur einen Tweet gesendet, 491 User zwei oder drei Tweets. Immerhin 115 User schrieben jeweils mehr als 10 Tweets.
Die erfolgreichsten (im Sinne von Retweets während der Sendung) stammen von @krk979 (98 RT), @AliCologne (58 RT und 42 RT) und @Heinrich_Krug (42 RT).
Man kann da jetzt alle möglichen Analysen drauf fahren (Hashtags, Dialoge, wer wird erwähnt), oder die erfolgreichsten Tweets zitieren ... aber hier soll es um Bots gehen. Also los: finden wir die Bots!
Verfahren 1: Accounts mit mehr als 50 Tweets pro Tag sind Bots
Das erste Verfahren, das mich auch auf das Thema gebracht hat, ist das von Botswatch. Alle Accounts, die mindestens 50 Tweets pro Tag senden oder mindestens 50 Favoriten markieren, sind Bots.
Im Sample von #annewill wären das
- mit 50+Tweets: 151 User mit 838 Tweets.
- mit 50+ Favoriten: 130 User mit 615 Tweets.
- Kombiniert (50 Tweets oder Favoriten): 217 User mit 1080 Tweets.
12 Prozent aller User sollen also Bots sein, die für ein Fünftel der Tweets verantwortlich sind. Das sind auch Zahlen, die Botswatch nennt (logisch, ich habe deren Verfahren angewendet) und 19% werden auch in einem ZEIT Online Artikel zu Social Bots genannt, oder im Handelsblatt. Beide zitieren Studien von Universitäten in den USA. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Primärquellen zu prüfen, und übernehme die Zahlen jetzt mal so.
Verschiebt man die Grenze, ab der ein Account als Bot gilt, auf 40 oder 60 Tweets, bleibt der Anteil ähnlich: 16 bis 10 Prozent der Nutzer wären Bots, und 22 bis 15 Prozent der Nachrichten von ihnen geschrieben. Ein Histogramm dazu habe ich bei Tableau (Achtung: unterschiedliche Bucket-Größen!).
Was sind das für Bots, die "nach einer neuen Bundestags-Studie nicht nur unsere politische Kultur vergiften, sondern bei knappen Mehrheiten auch Wahlergebnisse beeinflussen können" (focus)?
Ich habe mir die Accounts angeschaut, die im Annewill-Sample als Bot klassifiziert wurden, und besonders viel tweeten.
Top-Bot meines Samples mit 855 Tweets pro Tag ist der @bot_huso ("Hurensohn Bot"). Ein automatisches Programm, das Tweets retweetet, die das Wort "Hurensohn" beinhalten.
Es folgen eine kurdische Nachrichten-Suchmaschine (@Rojname_com), der @Demokratie_Bot, der offenbar alles mit #democracy retweetet, die @WorldTweetNews und etliche Trending-Topic-Bots (@TrendingTopicPK, @top_world_now). Alles Bots. Aber das offensichtlich, und vor Allem ungefährlich.
Erst danach folgt im Ranking der User @hans_obermeier (Username "Old Fart") mit 439 Tweets pro Tag und 12 Beiträgen zur Anne Will Sendung. Ein echter AfD/Merkelmussweg Typ, der sehr viele Beiträge retweetet, und manche selber verfasst oder kommentiert. Nach der 50-Tweets-Regel wäre er ein Bot, nach meiner menschlichen Einschätzung nicht. Zu viele Follower, zu "breites" Themenspektrum, eigene Kommentare zwischen reinen Retweets.
Dann folgen einige Spam-Bots.
Nachrichten wie "Check LINK Live Nude Streaming #Deutschland #BVBFCB #annewill #bpw16 #CDU www.ein-spam-link.com" werden häufig verschickt. Sie stammen auch eindeutig von Bots. Aber sie gefähren nicht unsere Demokratie!
Das Live-Nude-Streaming aus dem Bundestag wurde mit nur 14 Tweets beworben. Das ist nicht viel, aber treibt zusammen mit Trending-Topic-Tweets und anderem Spam die Zahlen der Bot-Hysteriker nach oben.
Zwischen Trend-Bots und Spam gibt es natürlich viele Accounts, die tatsächlich Inhalte verbreiten. Auch, und häufig ausschließlich, politische. Ob das denn Bots sind, lässt sich aber nicht aus der Menge der Tweets schließen.
Als nächstes habe ich mir das andere Ende des Spektrums angesehen: Accounts, die sehr wenige Tweets pro Tag absenden. (Kleiner Exkurs: die Tweets pro Tag errechnet man in der Regel aus dem Tag der Accounteröffnung und der Gesamtzahl der bisherigen Tweets. Schwankungen in der Aktivität werden dabei nicht berücksichtigt. Das ginge auch, aber mit erheblch mehr Aufwand.)
Ab unteren Ende des #annewill-Bot-Rankings nach Tweets-pro-Tag sind auffällig viele Accounts, die seit Jahren bestehen, aber nur eine einstellige Anzahl an Tweets verfasst haben. Als Beispiel seien genannt: @Secret9191, @Eschenbach22145, @Coby18807372, @juewilu, @trueequalsfalse und @FredHeiss. Besucht man diese Accounts, stellt man fest, dass sie wenige oder keine Follower haben, und tatsächlich nur einen sehr aktuellen Tweet (der aber zum Zeitpunkt der Überprüfung, zwei Tage später, schon nicht mehr der Annewill-Tweet ist). Hier wird offensichtlich kurz nach dem Schreiben wieder gelöscht. Entweder das sind komische Kauze -- oder Bots, die nicht also solche (durch plumpe Heuristiken) erkennbar sein wollen. Besonders die Namen mit Zahlen deuten möglicherweise auf eine generische Erzeugung der Accounts hin. Beim Herumspielen mit den Zahlen habe ich allerdings kein Schema und keine Serie gefunden. Unter der 50-Tweet-Hürde rutschen die alle durch.
Verfahren 2: BotOrNot
Die University of Indiana bietet einen Service namens BotOrNot an, den man auch per API benutzen kann. Die Nutzer der Annewill-Tweets habe ich gegen diese API gesendet.
Als Ergebnis erhält man eine Wahrscheinlichkeit, zu der ein Account als Bot angesehen wird. Da gibt es verschiedene Merkmale wie das Netzwerk, Account-Infos, Zeiträume zu denen geschrieben wird (24h Aktivität=Bot) und Inhaltsanalysen. Außerdem einen Gesamt-Score, den ich für alle Accounts, die sich an #annewill beteiligt haben, betrachtet habe:
Aus dem Sample werden 163 Accounts als Bots betrachtet, wenn man 50% Wahrscheinlichkeit als Bot-Grenze zieht. Möchte man zu 60% sicher sein, sind es nur noch 31 Accounts. Diese habe ich mir im Detail angesehen.
Sehr hohe Werte haben die Accounts @Anti68er (97%), @FredHeiss (92%), Coby18807372 (79%). Das sind die oben genannten "leeren" Accounts, die ihre Tweets schnell wieder lsöchen.
Auch vertreten sind @RMehberg (79%), @MarkusFelder2 (64%), @LisaSkytta (64%), die nicht sehr aktiv sind. Warum Accounts, die wenige Wochen alt sind und nicht viel schreiben, als Bots eingeordnet werden, erschließt sich mir nicht.
Von den 31 Usern, die mit mehr als 60% als Bot klassifiziert werden, wurde nur ein einziger in der 50-Tweets-Methode erfasst: @top_world_now.
Umgekehrt: der "Hurensohn"-Retweeter, die Trend-Bots, und die Spam-Schleudern sind von BotOrNot alle nicht als Bot erkannt worden. Zumindest nicht mit 60%er Sicherheit. BotOrNot vergubt ja nur den Score, und wo man dann seine Grenze zieht kann man selbst entscheiden. Aber: ich hätte die Bots, die eindeutig diesen Zweck haben, und sich selbst als Bots zu erkennen geben, auch mit hohen Punktwerten erwartet.
Auch hier noch ein Blick auf das andere Ende des Spektrums: von den 58 Usern, die mit weniger als 20% Wahrscheinlichkeit als Bot eingeordnet wurden, wären drei von der 50-Tweet Klassifizierung erfasst worden. Ein manueller Check zeigt, das sind normale Nutzer, die vor Allem ein breites Themenspektrum abdecken. Also nicht politikfixiert sind, sondern eben Sonntagabend mal Alle Will kommentieren.
Fazit 1: Vergleich der Bots
Man sieht, dass die beiden Verfahren -- 50-Tweet-Heutistik vs. API der Universität -- unterschiedliche Accounts als Bots einordnen. Bei beiden findet man an beiden Enden des Spektrums sofort Fehlklassifizierungen. Die Zahlen, die man als Grenzwert benutzt, lasse sich beliebig verschieben und sorgen dann entweder allmählich für mehr Bots (Anzahl-der-Tweets Methode) oder rapide (BotOrNot Score). Welche Grenze "richtig" ist, lässt sich nicht sagen. Bot-Erkennung ist halt orakeln statt Wissenschaft.
Fazit 2: Der Inhalt
Im Sample habe ich jede Menge radikale Asichten gesehen. Meistens von rechts. Besonders von Vielschreibern. Und das durch die Bank, unabhängig von Methode und Einordnung als Bot.
Was nicht bedeuten muss, dass die AfD und andere Nazis Bots einsetzen (wie gern irgendwo geschrieben wird), sondern auch bedeuten kann dass diejenigen besonders viel zu politischen Talkshows twittern, die besonders viel politisches Mitteilungsbedürfnis haben.
In absoluten Zahlen ist das nach meiner Ansicht eh nicht relevant. Accounts wie @AnneWillTalk, @HeikoMaas, @berlinerzeitung oder @jungeunion haben eine große Reichweite, stehen aber nicht im Verdacht Bots zu sein.
Der patriotische Vielschreiber @darksideoftheeg kommt auf 13.000 Follower, hat viele Beiträge und einen mittleren Score von 51% bei BotOrNot. Dass er exakt so viele Follower wie Friends hat, weist auf Strategie hin -- aber nicht zwingend auf einen Bot. Netzwerk und Inhalt sprechen laut BotOrNot-Daten für einen Bot. Die Aktivitäts-Zeiten dagegen. Ein Grenzfall. In dubio pro reo würde ich sagen, da ist jemand einfach aktiv und erfolgreich.
Die deutlich als Bots erkannten Accounts haben hingegen keine großen Follower-Zahlen. Und damit keinen großen Einfluss. Außer, wie so oft bei Twitter, indirekt über die Medien, die das Thema Bots aufgreifen und die, als wirksamer Aufreger, extreme Ansichten weiterverbreiten.
Was hilft denn? Wie erkennt man Bots?
Ganz wichtig: Bots schreiben eh keine Inhalte. Sie dienen als Multiplikatoren (einer schreibt, zehn künstliche Accounts veröffentlichen), oder sie verbreiten bestimmte Inhalte weiter. Dabei müsste der Algorithmus aber auch erkennen, ob merkelmussweg nun ernst oder ironisch benutzt wurde. Was eines der großen Probleme in der Sprachverarbeitung ist. Und beim stumpfen verbreiten von Ausländerhass ist es auch egal, ob das ein identitärer Fanboy mit zu viel Zeit macht, oder ein automatisches Programm.
Als konkrete Maßnahme für ein Thema, z.B. Polit-Talkshows, hilft nur die Einordnung der Tweets ins Thema. Passt das Geschriebene zur Sendung? Das kann dann nicht vorbereitet aus der Dose kommen. (Witze über die Vorhersagbarkeit von Polit-Talkshows überspringen wir.) Dann ist es wohl von Menschen geschrieben. So etwas ist aufwändig, und nur begrenzt automatisierbar. Da müsste man Mühe und Hirnschmalz reinstecken. Das ist nichts für simple Lösungen und plakative "jeder Fünfte ist kein Mensch" Schlagzeilen.
Die Bot-Detektoren jedenfalls helfen nicht. Noch nicht. Noch nicht gut genug. Es gibt sicher weitere Ansätze, aber so etwas ist immer ein Wettrennen. Die Bot-Programmierer wissen ja auch, mit welchen Methoden die Detektoren arbeiten. Und haben sich, wie gesehen, daran angepasst. Ich erinnere an die Accounts, die sehr viel schreiben und gleich wieder löschen. Oder die automatischen Trend-Bots und Spam-Bots. Bei solch groben Unschärfen kann man nur raten. Eine Angabe im Nachkommabereich, dass nun 22,81% der Akteure Bots seien, täuscht eine Wissenschaftlichkeit vor, die nicht gegeben ist.
P.S.
Es macht wirklich keinen Spaß, sich durch politische Tweets durchzuarbeiten.
"Die Talkshow #annewill ist noch nicht mal als Trinkspiel zu gebrauchen. Sad /o\"
— @NicolePunkt